Die Macht der Verführung: Machtspiele in Beziehung und Gesellschaft
„Wie im Kleinen, so im Großen“ – intrapsychische Faktoren der Anfälligkeit für Verführung
Blog von DI Günter Schwiefert, Pädagogischer Leiter der DAKOTA Akademie und des Zentrums für Mindful Human Leadership
Was macht uns verführbar? Was lässt uns Gedanken und Gefühle anderer übernehmen und nach deren Absicht handeln oder Handlungen über uns ergehen lassen?
Neben den im letzten Blog bereits erwähnten Beweggründen der Faszination charismatischer Persönlichkeiten, heilsversprechender Ideologien oder dem Wunsch dazuzugehören bestimmen intrapsychische Faktoren unsere Anfälligkeit für Verführung. Grundlagen für die folgenden Gedanken sind die entwicklungspsychologischen Ansätze von Wilhelm Reich, Alexander Lowen, Ron Kurtz und Laurence Heller.
Von Geburt an und auch davor ist unser Leben durch Beziehungen bestimmt. Schon der Embryo erlebt durch die Verbindung durch die Nabelschnur den „Gefühlscocktail“ der Mutter durch Botenstoffe und Hormone in der ganzen Bandbreite: von Liebe, Entspannung und Freude bis zu Angst, Wut und Ohnmacht. Hier werden die ersten Weichen gestellt, ob das Selbst, Beziehungen und die Welt als freundlich, sicher und vertrauenswürdig oder als fremd, feindlich, bedrohlich erlebt werden.
Geborgenheit und Sicherheit: ein guter Boden für Körperwahrnehmung und Selbstwahrnehmung, den Grundlagen für Selbstbestimmung
In dieser Phase und in den ersten Lebensjahren werden die Grundlagen dafür gelegt, ob wir uns später als Ganzheit von Körper, Geist und Seele sicher in der Welt und in unseren Beziehungen erleben, unsere Bedürfnisse wahrnehmen und ausdrücken können. Und unserer inneren Wahrheit folgen, ein stimmiges Ja oder ein bestimmtes Nein sagen und klare Entscheidungen in unserem Sinne treffen können.
Defizite in diesen Entwicklungsphasen führen zu unterschiedlichen Anfälligkeiten für Verführung und Beeinflussung.
Verführungsgefahr 1: „Ich bin mein Kopf und habe recht“
Mangel an sicherer Bindung: Flucht vom Körper und Emotionen hin zum Kopf
Finden wir im Kontakt mit unseren Bezugspersonen nicht Sicherheit und Geborgenheit, suchen wir sie in gedanklichen Konstrukten. Das macht uns verführbar durch in sich geschlossene Gedankensysteme ideologischer oder religiös/spiritueller Art, die uns vermeintlich Sicherheit geben, das Gefühl recht zu haben und auf der „richtigen Seite“ zu stehen. Andere Anschauungen werden dann als falsch, bedrohlich, oft sogar als feindlich erlebt und müssen entweder konsequent ignoriert oder entschlossen bekämpft werden.
Die intrapsychische Spaltung von Körper/Emotionen und Intellekt ist die Basis zur Spaltung der Gesellschaft. Weil aber der entwicklungspsychologische Prozess der inneren Spaltung/Dissoziation unbewusst geschieht, wird der Prozess der Spaltung der Gesellschaft nur im Außen gesehen und damit nicht nachhaltig auflösbar.
Verführungsgefahr 2: „Endlich gerettet“
Werden wir in der Säuglingsphase nicht verlässlich versorgt, suchen wir ein Leben lang nach jemanden, der das tut, begleitet uns lebenslang ein Hunger. Der natürliche kindliche Wunsch, versorgt zu werden, wird dann auf Partner:innen, Freund:innen, Menschen in der Umgebung oder auf Institutionen wie Parteien oder den Staat projiziert, die „Rettung“ von außen erwartet: Das öffnet „Retter:innen“ die Türen uns zu beeinflussen oder zu lenken. Manchmal zu unserem Guten, aber auch oft nur zum Vorteil der „Retter:innen“.
In Liebesbeziehungen kann sich dieser Wunsch in der Sehnsucht nach Verschmelzung zeigen, um in der die Auflösung des Ich in einem symbiotischen Erleben diesen Hunger zu befrieden.
Im Politischen ist die Auflösung/Verschmelzung des Ich mit einer Masse ein Äquivalent dazu. In beiden Fällen wird das Ich-Erleben aufgelöst und die Macht abgegeben.
Verführungsgefahr 3: „Du bist mein Ein und Alles (Ich bin nichts und du bist alles ),“ (im persönlichen) oder „Du bist nichts, dein Volk (das große Ganze, die Welt, das Klima) ist alles“ (im gesellschaftlichen).
Selbstaufgabe als Preis für Beziehung: Aufgabe der Autonomie, um die Bindung zu sichern
Im weiteren Verlauf der kindlichen Entwicklung entscheidet sich, ob eine natürliche Balance der Grundbedürfnisse nach Bindung (Nähe, Zugehörigkeit) und Autonomie (Distanz, Selbstbestimmung, Eigenständigkeit) entsteht oder wir uns aufgrund der Beziehungsgestaltung unserer Bezugs-/Bindungspersonen für eines von beiden entscheiden müssen.
Übergriffigkeit oder die Erfahrung, alles allein machen zu müssen, lässt uns für die Autonomie entscheiden. Das macht im hohen Grad immun gegen Verführung, allerdings für den Preis des Alleinseins und des Einzelkämpfertums.
Haben wir hingegen gelernt, uns und unsere Gefühle und Bedürfnisse – und damit unsere Wahrheit – an zweite Stelle zu stellen, weil unsere Autonomiebestrebungen abgewertet oder unterbunden werden oder wir aus Rücksicht auf die Bezugs-/Bindungsperson auf diese verzichten (wenn wir diese als schwach, nicht belastbar oder unberechenbar erleben), rückt die Selbstwahrnehmung in den Hintergrund, bis sie eventuell sogar ganz aus dem Bewusstsein getilgt wird. Bindung und Beziehung wird dann zur Selbstaufgabe. Nicht nur Gefühle und Bedürfnisse, sondern auch die eigenen Gedanken, Werte und Überzeugungen werden zurückgestellt oder verdrängt. Das öffnet uns für die Gedanken, Werte und Überzeugungen anderer, macht uns beinfluss- und lenkbar.
Verführungsgefahr 4: „Mein:e Führer:in, ich folge dir!“
Wer keine Selbstwirksamkeit erlebt, lässt andere wirken oder die Ohnmächtigen folgen den Mächtigen
Eine wichtige Erfahrung der nächsten Lebensjahre, die allerdings in ihren Grundzügen schon im Säuglingsalter beginnt, ist das Erleben von Selbstwirksamkeit.
Werden meine Äußerungen verstanden und darauf reagiert? Kann ich meine Bedürfnisse wahrnehmen, mitteilen und bekomme ich sie erfüllt? Kann ich Dinge selbst erfolgreich erledigen? Darf ich meiner spielerischen Neugier und Kreativität nachgehen oder werde ich dafür bestraft? Kann ich eine Balance zwischen Durchsetzung und Nachgeben erleben?
Wenn ich erlebe, dass meine aus der Selbstwahrnehmung entstehenden Handlungen zu Erfolg führen, dass ich etwas bewirken kann, entsteht die Erfahrung von Selbstwirksamkeit.
Wird das durch rigide Regeln im Familiensystem oder durch Abwertung unterbunden, entsteht das Erleben von Hilflosigkeit und Ohnmacht. Diese erlernte Hilflosigkeit sucht nach Hilfe von außen, nach Macher:innen, nach (scheinbar) Mächtigen und lässt sich nur allzu gerne von solchen Mächtigen verführen.
Fazit
Defizite in der frühkindlichen und kindlichen Entwicklung lassen ein Vakuum entstehen, das sich leicht durch Verführung füllen lässt, ja – wie das bei einem Vakuum so ist – Beeinflussung, Fremdbestimmung und Verführung geradezu anzieht.
Beginnen wir durch Selbstreflexion unsere Selbstwahrnehmung achtsam zu entwickeln, können wir einen neuen Umgang mit diesen Defiziten lernen und unsere Stärken und Ressourcen nutzen, um zu einer Balance zwischen Selbstbestimmung und sozialer Anpassung, Autonomie und Bindung, Bei-Sich-Sein und trotzdem Dazuzugehören finden.
Unsere Ausbildungsprogramme
Übrigens, kennst du schon unser umfangreiches Ausbildungsprogramm der DAKOTA Akademie? Im Dezember startet der dreijährige Lehrgang zum psychosozialen Lehrgang und systemischen Coach mit staatlichem Abschluss, und 2026 beginnen unsere Lehrgänge für Paarberatung, Sexualpädagogik und Sexualberatung.
Im Rahmen der Gruppenselbsterfahrung und der systemischen Beratungen werden auch Interventionen im Umgang mit entwicklungspsychologischen Themen vermittelt.
Wenn du Interesse hast, klick auf die folgenden Links für weitere Informationen und zur Anmeldung
- Staatl. Psychosoziale Beratung (ehemals Lebens- und Sozialberatung)
- Paarberatung
- Sexualberatung
- Sexualpädagogik
Ich würde mich freuen, diese Reise des Lernens mit dir zu teilen und dich vielleicht bei dem ein oder anderen Lehrgang persönlich begrüßen zu dürfen.
Herzlichst,
DI Günter Schwiefert
Pädagogischer Leiter der DAKOTA Akademie